Abgeschnittene Stücke

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Statistisches Bundesamt, 1991. Das Ereignis wiederholt sich zwei Millionen Mal jährlich. Eine Million und fünfzigtausendzweihundert Tonnen Schrott, grob gerechnet. Die Produktivität der Geschwindigkeitsfabrik ist abhängig vom Ausstoß der Automobilindustrie und dem Konsum der Endverbraucher.

Vgl. Bundesverband der deutschen Schrottwirtschaft: Vom Schrott zum Stahl. Bedeutung des Rohstoffs Schrott für die Eisenstahlerzeugung, Düsseldorf 1977.

Noch vor der Werbung besorgt der Unfall die Absatzförderung.Mit einer Frequenz von etwa 19 Sekunden produziert die BRD ein Ergebnis, das Schrott heißt.


Zum Projekt - auf die Schnelle siehe "Abstact"

"Völlig zerstört wurde der Wagen, über den der Fahrer die Kontrolle verloren hatte." Neben der statistischen Aufarbeitung erscheint der Unfall als Bild in den Tagesnachrichten. Diese Bilder sind willkürlich und stochastisch gewählt. Die öffentliche Repräsentation des Phänomens entspricht weder den saisonalen Konjunkturen noch seinem wirtschaftlichen und kulturellen Stellenwert. Statistik und Bild melden lediglich das immergleiche Ergebnis: Ein Wagen hat seine Bahn verlassen. Die Karosserie ist aufgerissen. Motorteile und Kabel sind sichtbar geworden. Die organische Assoziation vom Kadaver stellt sich ein. Einige Fahrzeugteile fehlen. Die Felgen sind intakt, in der Windschutzscheibe sieht man das Spinnennetz aus Sprüngen und Rissen. Das Bild zeigt das von starren Statisten der Aufräumarbeiten umringte Wrack, eine vom Blitzlicht überraschte Ruine deformierten Blechs. Keiner hat dieses Bild je gesehen, aber wir kennen es alle.
Schrott: etymologisch von Schrot; abgeschnittenes Stück von etwas. Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Sp. 1797. Dem Verweis auf Schrot, ebd., Sp. 1773-1780 lohnt nachzugehen. Z. B. bedeutet es auch Abschrift, Stück Papier. Der Blick auf den Unfall ist von einem Trauma überdeckt. Der Verlust der Kontrolle über den Wagen ist gleichbedeutend mit der Amnesie des Ereignisses. Die Wirkungen - Schock und Trauma - löschen, was allenfalls in Millisekunden hätte gespeichert werden können. So ist die Erinnerung an den Unfall selbst Schrott, nämlich ein abgeschnittenes Stück. Auch die Bilder aus der Geschwindigkeitsfabrik sind solche abgeschnittenen Stücke. Was auf den Straßen schnell wieder dem blockierten Verkehrsfluß und gaffenden Blicken entzogen wird, taucht blitzlichtartig und unzusammenhängend im Rauschen der Informationen auf.
Kaum ein Blick verweilt länger auf den Zeitungsbildern. Kaum ein Nachdenken verfolgt die Mischung aus Faszination und Abwehr, die sich beim Betrachten einstellt. Eine Sammlung von Photos durchbricht die fragmentierte Wahrnehmung. Sie läßt in den abgeschnittenen Stücken eine feste Ordnung erkennen. Unfalltypen werden klassifizierbar, die Ästhetik der Darstellung wird transparent.
Unfalldatenspeicher.

Ornamente des Unfalls.

Diese Phänomenologie stößt aber nicht zur Ordnung des Unfalls vor. Die Obszönität der Bilder markiert eine Grenze der Reflexion. Avancierte Phänomenologie kommt allenfalls den Versuchsanordnungen der Crash Tests gleich. Beide teilen die Typologie von Überschlag, Seitenaufprall, Frontal- und Auffahrunfall. Aber Crash Tests sind keine Programme der Erkenntnis, sondern der Berechnung. In ihnen wird das Datum des Unfalls zu pluralen Daten, die zur Entwicklung der nächsten Fahrzeuggeneration wieder eingespeist werden. Technische Prothesen müssen uns helfen etwas zu erinnern, das wir nicht wissen können. Feed back. Was der menschlichen Wahrnehmung entgeht, bewahren digitale Unfalldatenspeicher auf. Es ergibt sich ein Kreislauf von Informationen, die keine Phänomenologie mehr erreicht. Das Wissen um den Unfall zirkuliert als Expertenwissen in den Programmen der Produktion. Der Unfall selbst ist ein Programm, dessen Wirkungen von industrieeigenen und unabhängigen Forschungsgruppen seit langem beobachtet und ausgewertet werden. Das Automobil als technisches Produkt bezieht daher die Wirkung seiner Geschwindigkeit als "passive Sicherheit" ein. "Stoßfänger", Gurte und verstärkte Fahrgastzellen, Knautschzonen bis hin zum Airbag sind Ornamente des Unfalls. Sie signalisieren das zentrale "Rätsel der Technik", nach dem Zufälligkeit und Notwendigkeit des Unfalls als Einheit zusammenzudenken sind.
E. Stubin 1973. Automobile werden heute von zwei Endzuständen her geplant und gefertigt, die beide Variationen von Schrott sind: Unfall und Recycling. Das Auto, wie wir es zu kennen glauben, ist selbst nur eine Momentaufnahme aus einem komplexen Informations- und Produktionskreislauf, in dem die verschiedenen Insassen der Geschwindigkeitsfabrik unterschiedliche Materialzustände handhaben.
Der ungeheure Erfolg des "Leitfossil[s] unserer Zeit" ist nicht einfach mit seiner technischen Leistung zu erklären. Er geht vielmehr mit der Fähigkeit des Automobils einher, sozial hochwertige Symboliken auf sich zu vereinigen, die einmal exklusive Themen idealistischer Philosophie darstellten: Individualität und Freiheit. Der Übergang vom ausgereiften technischen Produkt zu dessen Verwendung und Durchdringung der Öffentlichkeit stellt damit eine Übersetzung der technischen Programme in kollektive Mythen, Symboliken und Wünsche dar.
Zwei Ebenen: Diskurs und Dispositiv.

Zur Theorie von Diskurs und Dispositiv Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978.

Es gibt zwei zu unterscheidende Ebenen, die das Thema konzeptualisieren. Das Automobil ist einerseits ein streng kalkuliertes technisches Produkt und auf dieser Ebene sind Zuschreibungen wie Individualität und Freiheit mehr als naiv. Gleichzeitig ist es jedoch ein Medium gesellschaftlicher Wertungshierarchie. Mehr noch, Autos stehen nicht nur für Werte, sondern sie produzieren und definieren sie. Diese Ebene wird über Sprache und Kollektivsymbolik diskursiv verhandelt. An sie ist die Öffentlichkeit angeschlossen.
Die technische Ebene jedoch stellen Dispositive dar, nicht-sprachliche Organisationen von Räumen, von Informations- und Produktionskreisläufen. An ihnen nimmt die Öffentlichkeit nicht teil. Das Automobil wird öffentlich einem idealen Programm zugeschrieben, dem das technische Produkt von Anbeginn widerspricht.
Die Übersetzungen des einen in das andere müssen beobachtet werden, um in Erfahrung zu bringen, wie es kommt, daß Unfälle und Opfer mit geradezu ritueller Gleichgültigkeit verbucht werden, während andere Todesarten spektakulärer Schlagzeilen und Emotionen sicher sein können. Daher gleicht unser Vorgehen eher einer Lektüre als einer Phänomenologie. Verstreute Stücke Information sind zu sammeln, zu demontieren, zu interpretieren. Eine Lektüre der Geschichte des Automobils zeigt Bruchstellen, an denen die Entstehung von Mythen und Symboliken greifbar wird.

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© Matthias Bickenbach, Michael Stolzke, Bonn 1996