Die Logik des Unfalls: Zufall und Notwendigkeit

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"Der kapitale Unfall ist im Leben eines Automobilisten ein seltenes Ereignis."
Der SPIEGEL 39/1991, S. 297.

Wie kommt es zum Unfall? Meist können Beteiligte, "Verursacher" wie "Opfer", am wenigsten aussagen. Ihrer Wahrnehmung geschieht plötzlich "etwas", das die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Sinne über- bzw. unterschreitet. Behalten werden die Wirkungen des Aufpralls, Schock und Traumata, körperliche Deformationen. Daß der meist im Singular auftretende Unfall so schwache Resonanz im kulturellen wie individuellen Gedächtnis erhält, bedingen zwei Umstände.
Vgl. O. J. Grüsser: Zeit und Gehirn. Zeitliche Aspekte der Signalverarbeitung in den Sinnesorganen und im Zentralnervensystem. In: Die Zeit. Dauer und Augenblick. Hg. v. H. Gumin und H. Meier. München 1992, S.79-132.

"Unfall, durch plötzliche, schnell vorübergehende Einwirkung von außen verursachte Schädigung eines Menschen [...]. Die dadurch bewirkten Vorgänge am und im Körper des Verunglückten werden als Trauma bezeichnet." Brockhaus.

"die jüngere entwicklung beschränkt unfall im wesentlichen auf den begriff des unglücklichen Zufalls, accidens, casus, und schließt ebensowohl das zuständliche wie alles planmäszige handeln aus. er ist meist äuszerlicher art." Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd.24, Sp.526.
Einerseits kann die Ökonomie der Aufmerksamkeit dem Ereignis nicht entsprechen. Andererseits aber stimmen die traditionellen Wertungen der Kategorie Unfall nicht mit der spezifischen Logik des Phänomens überein. Die Definition des Unfallbegriffs, die Plötzlichkeit und Unvorhersagbarkeit festschreibt, ist verfälschend. Beschreibt das erste Kriterium nur eine Wahrnehmungsgrenze, so stellt letzteres einen Mythos dar. Nur mythisch nämlich kann der Fall Unfall verarbeitet werden. Die Zufälligkeit des Ereignisses wird durch die Unvorhersagbarkeit hervorgerufen. Oft schwingt die alte Begriffsbedeutung des Unglücks oder des Zufalls im Unglück mit. Unfall ist demnach ein von außen zustoßender Zufall. Fortuna, als blinde Lenkerin des Schicksalsrades, ist jedoch ein reichlich überholtes Denkmodell. In den Programmen der Geschwindigkeitsfabrik sind Unfälle kein Zufall. Deshalb fällt die Gründung der Versicherungsanstalten mit der Industrialisierung zusammen.
Arnolt Bronnen: Moral und Verkehr. In ders.: Sabotage der Jugend. Kleine Arbeiten 1922-1934. Innsbruck 1989, S.128. (Dank an Heiko Christians). Das Autorad ersetzt alle metaphorischen Räder der Tradition: Unter die Räder kommen, "das ist beim Verkehr nicht bildlich gesprochen, sondern blutige Wirklichkeit." So der letzte Satz von Arnolt Bronnens Artikel "Moral und Verkehr". Die Gefährlichkeit des Verkehrs gilt ihm als "neue Schule der Moral" mit den Unterrichtsfächern "Elastizität und Entschlußkraft", d.h. den Fähigkeiten, die unterschiedlichen Geschwindigkeitszonen richtig einzuschätzen und Herr seiner Nerven zu bleiben, so daß man nicht in die Räder dieses Getriebes kommt.

Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd.14, Art. "Rad", Sp.35 ff. und "Räder", Sp.49.

J. Chr. Adelung: Art. "Rad". In: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1774-1786.
Unter die Räder kommt man aber auch sprichwörtlich erst seitdem Automobile Verbreitung gefunden haben. Grimms Wörterbuch "R - Schiefe", - 1893 beendet - kann den Ausdruck noch nicht verzeichnen, da man bislang nicht unter, sondern allenfalls auf das Rad kam, nämlich gerädert wurde. Rädern aber bedeutet: "mit dem rade hinrichten". Diese Bedeutung wird auf Unfälle mit Fuhrwerken und Postkutschen übertragen. Adelungs Wörterbuch aus dem 18. Jahrhundert notiert die Umkehrung von Hinrichtung und Unfall: "man wird gerädert, wenn man überfahren und von den rädern eines wagens zerschmettert wird."
Weil aber die Bedingungen, die einen unter die Räder kommen lassen, chaotisch sind, gilt der Unfall als unvorhersagbar. Die Singularisierung zu einer "Unfallursache" reduziert das komplexe Geflecht der Bedingungen, die unmöglich zu erzählen sind.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1978. Bd.1, S.10.

Nach Karl Corino geht die Beschreibung auf zwei Unfallbilder zurück: Am 17. 10. 1911 ereignete sich "unmittelbar vor Musils Haustür" in Wien ein tödlicher Unfall. Zum anderen verfolgte Musil in Berlin den Unfall eines Omnibusses, desses Photo später in der Tagespresse erschien. Vgl. Corino: Musil. Reinbek 1988, S.347.

"Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand."
Musils Beschreibung formuliert mit der Vorgängigkeit des 'schon einen Augenblick vorher war etwas' unfreiwillig die Logik des Unfalls.
Die beiden ehrwürdigen philosophischen Begriffspaare, Notwendigkeit/Zufall sowie Ursache/Wirkung werden vom Unfall verdreht und deformiert. Der Zufall, das Akzidens, wird nach der aristotelischen Logik als von außen kommender Zusatz dem Notwendigen, der Substanz, entgegengesetzt. Die Katastrophe scheint von außen in die als gesichert angenommene Ordnung "einzutreten". Die Kopplung von Zufall & Unfall, Akzidens & accident entspricht aber nicht dem, was der Fall ist.
Das Rätsel der Technik.

Paul Virilio: Technik und Fragmentierung. P. Virilio im Gespräch mit Sylvère Lotringer. In: Aisthesis. Leipzig 1990, S.72f.

Da das Automobil eine Maschine zur Produktion von Geschwindigkeit ist und diese die Ursache der Katastrophe, muß man begreifen, daß der Unfall ein integrales Bestandteil dieser Maschine darstellt. Darin liegt, nach Paul Virilio, die Pointe: "Das Rätsel der Technik ist auch das Rätsel des Akzidens":

"Die Frage Können wir auf die Technik verzichten? läßt sich so nicht mehr stellen. Notgedrungen muß man in die Frage der Technik nicht nur die produzierte Substanz einbeziehen, sondern auch das mitproduzierte Akzidens, den Unfall oder Zufall. Das Rätsel der Technik, ist auch das Rätsel des Akzidens. Ich möchte das erklären. In der klassischen aristotelischen Philosophie ist die Substanz notwendig, das Akzidens relativ und zufällig. Nun kehrt sich das aber heute um. Das Akzidens wird notwendig, die Substanz relativ und zufällig. Jede Technik produziert, provoziert und programmiert ein spezifisches Akzidens, einen spezifischen Unfall."

"Information ist das Maß der Menge von Form."C. F. von Weizsäcker. Virilios These erklärt zumindest, warum die erzählende Zeitstruktur von "vorher" und "nachher" nicht angemessen sein kann. Der Logik des Unfalls eher angemessen scheint das Futur II, die vollendete Zukunft: Der Unfall wird immer schon geschehen sein. Andererseits wird deutlich, daß Schrott eine exakte Information ist. Der Unfall ist jenes Insistierende, das die Geschwindigkeit als Schrott sichtbar werden läßt. Die Deformation ist Information. Deshalb kann Virilio Unfälle als Belichtungszeit von Geschwindigkeiten verstehen: "Jeder Unfall belichtet die Welt."
"In der Weise, wie die Seefahrt seinerzeit die Katastrophe des Schiffbruchs mit sich gebracht hatte [...], hat der beschleunigte Verkehr eine neue Katastrophe, den Zusammenstoß, herbeigeführt und entwickelt: das heißt, das unvorhergesehene Verschwinden eines Fahrzeugs in einem anderen."
Paul Virilio: Der negative Horizont. München 1989, S.144f.

Kein Geschwindigkeitstheoretiker, sondern Literatur-Nobelpreisträger Octavio Paz. In: Conjunctiones y Disjunctiones. Deutsch. Frankfurt a. M. 1984, S. 136.

Dazu K. D. Pohl: Naturwissenschaftliche Spurenanalyse bei Verkehrsunfällen. Med. Diss. Göttingen.

Das Automobil hat seine eigene Katastrophe erfunden. Im Gegensatz zum Schiffbruch, der für die Beschreibung existentieller Situationen zur "absoluten Metapher" (Hans Blumenberg) werden konnte, im Gegensatz zur Eisenbahnkatastrophe des Entgleisens, repräsentiert der Autounfall die reine Gewalt der Geschwindigkeit. Der Unfall, den das Auto erfindet, ist der Zusammenstoß, der Aufprall in all seinen Variationen.Die Kultur gewöhnt sich seit anderthalb Jahrhunderten an immer höhere Geschwindigkeiten und deren Katastrophen. Deshalb ist sie eine Kultur der Unfälle. Virilios Perspektive ist keineswegs neu:
"Der Zufall ist ein Bestandteil unseres alltäglichen Lebens und sein Bild schreckt unsere schlaflosen Nächte. ... Der Zufall ist weder eine Ausnahme, noch eine Krankheit ... auch ist er kein korrigierbarer Mangel unserer Zivilisation: er ist die natürliche Konsequenz unserer Wissenschaft, unserer Politik und unserer Moral. ... Der Zufall ist zu einem Paradox der Notwendigkeit geworden. ... Die Katastrophe wird banal und lächerlich, da der Zufall letztendlich nur ein Unfall ist."
Die Information, eine Einschreibung der Spur der Geschwindigkeit, die auf das Vehikel zurückgeworfen wird, läßt sich - im strengen Sinne - nicht verstehen. Verständnis fordert Übersetzung in Erzählkonstruktionen. Während die Spurensicherung der Unfallforschung ihre Daten und Zahlen zu Unfallberichten bündelt, müssen wir eine historische Spurenlese der Genealogie des Unfalls beginnen. Die Geschichte des Automobils wird immer schon die seiner Unfälle gewesen sein.

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© Matthias Bickenbach, Michael Stolzke, Bonn 1996