Passive Sicherheit im Wohlfahrtsstaat

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Für den Automobilismus ist auch der zweite Weltkrieg weder eine Zäsur, noch der Vater aller Dinge. Nur eine Umwertung des Symbols ist vonnöten, um den Volkswagen als "Sparkäfer" in neuem Selbstbewußtsein endlich real werden zu lassen.
Bereits 1953 überschreitet die Zahl der in der damaligen Bundesrepublik zugelassenen PKW die Millionengrenze. Die Automobilbauer profilieren sich als Promoter des Wirtschaftswunders. Der VW läuft und läuft und läuft, und wir sind wieder wer. Der Image-Transfer des Automobils funktioniert ebenso reibungslos wie die Verwandlungen der Fabriken. Das Automobil steht in Werbeanzeigen wortkräftig für neue Ideale wie Rentabilität, Tatkraft und - wohlgemerkt - bescheidenen Wohlstand ein.
HAFRABA = Verein zur Vorbereitung der Autostraße Hansestädte - Frankfurt - Basel.

Vgl. W. Sachs: Liebe zum Automobil, S.92ff.

ADAC: Manifest der Kraftfahrt. In: ADAC-Motorwelt 5/1965. Abgedruckt auch bei W. Sachs, Liebe zum Automobil, S.94ff.
Wie die Daten der Crash Tests für die nächste Produktgenerationen ausgewertet werden, so wiederholen sich die Interessen und Argumente der Automobilindustrie und ihrer Anhänger. Der lange geforderten Straßenoffensive des Staates, von Gebilden wie der HAFRABA beschworen und begonnen, gelingt in den 60er Jahren der Durchbruch. Von 1960 bis 1973 vervierfacht sich die Anzahl der PKW, verdreifacht sich die Anzahl der gefahrenen Kilometer und verdoppelt sich die Streckenlänge der jetzt demokratisierten Autobahnen. Aktionen wie "Kavalier am Steuer" rufen "alte Tugenden" ins Gewissen, die es nie gegeben hat, und propagieren eine Raumplanung, die sich als common sense der Bevölkerung ausgibt.
Sprachrohr ist der ADAC. Sein "Manifest der Kraftfahrt" von 1965 wiederholt nicht nur den alten Ruf nach dem Staat als Garanten eines reibungslosen Ablaufs des Verkehrs, der die Sicherung von Gut und Leben aller Verkehrsteilnehmer gewährleisten soll, sondern auch die Programmatik Hitlers: "Das Automobil ist ein Gebrauchsgegenstand für jedermann zur Befriedigung von Alltagsbedürfnissen." Der erste Satz des Manifestes mündet im Lob jener "weitblickende[n] Männer", die das Mobil zum Alltagsbedürfnis haben werden lassen. Natürlich wird nicht Adolf Hitler genannt, sondern stellvertretend "Männer, wie Henry Ford".
Gefordert wird die Sicherheit "aller Verkehrsteilnehmer". Aber: Der Kraftverkehr darf und soll nicht moralisch verurteilt werden, "indem man ihn fast ausschließlich für die Notstände des Verkehrswesens und für das Übel der Verkehrsunfälle verantwortlich macht". Vielmehr sollen die "täglichen Stauungen und Verkehrszusammenbrüche" als "eine Quelle großer Zeitverluste, vieler Opfer an Leib und Leben sowie täglichen Ärgers" durch "verstärkten Ausbau eines modernen Fernstraßennetzes" bereinigt werden.
Geschwindigkeit und Gewalt der Kraftfahrt kommen nicht vor. Als Gefahr gilt die Stauung, die irgendwie auch Opfer an Leib und Leben einfordert. Argumente aus 70 Jahren Automobilismus kehren wieder: Vermögensbildung, Wirtschaftsfaktor, Wohlstandsanteil, Sicherheit, Mut und Entschlossenheit. Schließlich werden demokratischer Staat und Straßen, wie einst faschistischer Krieg und Autobahnen, existential-ontologisch eins: "Für ein modernes Staatswesen gehört zu diesem unerläßlichen Teilen der Daseinsgrundlagen ein geordnetes Straßenwesen."
Nach der Bescheidenheit des Wiederaufbaus geht der Kraftfahrer freudig neuen Idealen entgegen: "Das Automobil ist Symbol und Werkzeug dieses Strebens der Menschheit zu neuen Zielen, die nur auf guten Straßen erreicht werden können." Das ist das wörtliche letzte Wort dieses real gewordenen futuristischen Manifestes.
Zur Realität auf den Straßen um 1970 siehe Gerhard Zwerenz: Bericht aus dem Landesinneren. Ausführlich: Dietmar Klenke: Freier Stau für freie Bürger. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949-1994. Darmstadt 1995. Kleine Statistik daraus: Seit Aufhebung des Tempo-Limits 1953 steigt die Zahl der Unfalltoten in Deutschland von jährlich 8.800 auf 12.883. Das sind 50 % in drei Jahren. 1970: 19.193 Tote und über 530.000 Verletzte. . Die Ordnung des Straßenwesens ist einfach: Planungsämter und Ausbaupläne programmieren eine Bundesrepublik durch die strikte Unterscheidung von Schnellstraßen, Landstraßen und Autobahnen. Dazwischenliegender Raum, einst Land und Landschaft, kommt als Bebauungsgebiet in Betracht, wird zerschnitten und zerteilt und nur ein einziges Kriterium ist für Klein- und Großstädte wie für Dörfer entscheidend: die Anschlüsse zum Netzwerk des "Verkehrskreuzes Europas".
Diesem Netzwerk gehören jetzt auch Verkehrsfunk und Rettungshubschrauber an, die die Massenmotorisierung mit nüchterneren Informationen begleiten als die vollmundigen Sprüche der Werbung: Freude am Fahren, Pack den Tiger in den Tank, nur Fliegen ist schöner, ihr guter Stern auf allen Straßen.
Eine kleine Verschiebung macht die "feinen Unterschiede" der Selbstrepräsentation durch Produktdifferenzierung zu einer Ideologie des "Neuen". Alteuropas Traditionsbewußtsein ist vergessen. Nur das jeweils Neue kann Wert haben, denn neu heißt technisch besser. Mit dieser Gleichung hat die Geschwindigkeitsfabrik ihre Autopoiesis installiert.
In memoriam Preston Tucker.. Mit der Massenmotorisierung kommt es zu einem Unfalltyp, der zuvor nur einer unter anderen war. Jetzt wird er zu dem Unfall des Automobils: der Zusammenstoß mit einem anderen Gefährt. Da das Standardargument für die Sicherheit, die "freie Bahn", nicht mehr überzeugen kann, werden immer neue - und zweifellos bessere - Sicherheitsvorkehrungen eingeführt. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg stellt Preston Tucker sein "Automobil der Zukunft" vor. Dieser Wagen mit Heckmotor, der 200 km/h fahren können soll, sorgt u.a. mit Sicherheitsgurten, splitterfreier Windschutzscheibe und Scheibenbremsen für eine kurze Sensation.
Tucker baut genau 50 Wagen, bevor er am Widerstand des Staates und der drei großen Automobilfirmen zugrunde geht. Tucker macht den Fehler, die "Big Three", General Motors, Ford und Chrysler, der "fahrlässigen Tötung" schuldig zu befinden, weil sie ihre Wagen nicht sicherer machen, als es möglich wäre.
Zusammenstoß und Sicherheitstechnik.

Ralph Nader: Unsafe at any speed. New York 1965.
versus
Zunächst kann er Ministerien mit Unfall-Filmen und Statistiken überzeugen. Aber ohne Stahlindustrie und ohne Fabrik kann er seine Wagen nicht in Serienproduktion gehen lassen. Boykott und Gerichtsurteil bremsen ihn aus. Seine Geschichte war Francis Ford Coppola einen Film und der Automobilindustrie das Recycling der Sicherheitstechniken wert. Tuckers Sicherheits-Propaganda und -Inventar ist inzwischen Standard und guter Ton.
1959 unternimmt Daimler Benz die ersten Crash Tests. 1965 führt Ralph Naders Auto-Buch mit dem Titel "Unsafe at any speed" zu vehementen Debatten und schließlich zu neuen Sicherheitsvorschriften und Geschwindigkeitsbegrenzungen für PKW in den USA. Nicht so in Deutschland, wo Freiheit und Automobilismus bis heute verwechselt werden. Entsprechend allergisch ist die Reaktion auf Ralph Naders Buch und seine Wirkung. Sie endet - wie schon bei Baundry de Saunier in einer Verharmlosungs-Propaganda.

Reinhard Seiffert: Vom Fahren hängt das Leben ab. Stuttgart 1969.Reinhard Seiffert: Vom Fahren hängt das Leben ab, S. 15..
"Ausgerechnet dem größten Autoland der Welt mußte ein sicherheitsfanatischer Rechtsanwalt sagen, daß die Autos 'unsafe at any speed' sind - unsicher bei jeder Geschwindigkeit. Fahreigenschaften, Bremsen, Reifen der US-Straßenkreuzer halten keinen Vergleich mit guten europäischen Wagen aus. Optimal fahrsicher sind sie schon bei den in den USA erlaubten Geschwindigkeiten nicht. Europa [sic!] fährt schneller und trotzdem nicht unsicherer. Gerade die schnellsten unserer Straßen, die Autobahnen, sind gemessen an ihrer hohen Verkehrsdichte ausgesprochen sichere Straßen. Die Unfälle, die dort passieren haben zumeist mit hoher Geschwindigkeit nichts zu tun."
Opel nimmt 1985 einen CRAY 1/S Computer in Betrieb, der 1988 durch einen CRAY X-MP ersetzt wird. 1996 - so hört man - habe Ford in Köln die mächtigste Rechenanlage zur Crash-Simulation.

"Der Faktor Mensch gilt heute als Unfallursache Nr.1" - das pointierte Fazit von Unfallforschung und -psychologie in einer BMW-Werbung, 1993.

Sicherheitsgurte, Aufprallschutz, Knautschzone, verstärkte Fahrgastzelle, ABS, Airbag: alles Stichworte, die die neue Parole der Geschwindigkeitsfabrik formulieren: "Passive Sicherheit". Inzwischen simulieren Hochleistungsrechner Unfälle auf digitaler Basis. Nur die Dummies, errechnete Abstraktionen menschlicher Versuchspersonen, markieren einen doppelten Schwachpunkt. Menschlicher Schrott entzieht sich noch weitestgehend der Informationsverarbeitung. Gleichzeitig aber hat man den Schuldigen wieder gefunden. Es ist nicht mehr der "wilde", sondern schlicht der Fahrer oder eben der Mensch. Er läßt außer Kontrolle geraten, was Maschine und Programm nicht verhindern können. Aber auch hier springt die technische Innovation wieder helfend ein.
Vgl. Focus 12/93, S.106 zum Mitsubishi Galant als erstem serienmäßig mit Fuzzy Logic Systemen ausgestatteten Wagen. Vgl. inzwischen auch: Spiegel Spezial Nr.3: Abenteuer Computer, 1995. "Geisterhand am Lenkrad", S.128-132.Mythos Phaeton: Vom Kontrollverlust Navigationssysteme für den tagtäglichen Heerzug, Tempomat, intelligente Steuertechniken in Lenkachsen und Vergasern mit Fuzzy Logic Hardware, Pyrotechnik in Gurtrückholsystemen bilden erst den Anfang einer neuen Generation jetzt "aktiver Sicherheit" (Audi). Die neue Generation der Sicherheitstechnik wird die Schwachstelle des Automobilismus, den Fahrer, nicht mehr nur einfach schützen, sondern ihn beschützend korrigieren.
Die Technikeuphorie macht vergessen, daß ein alter Mythos vollends obsolet wird - der Fahrer als souveräner Führer des Mobils. Das programmierte Verschwinden des Fahrers, eine der Strategien, um Automobilismus trotz voller Straßen weiter zu steigern, wird als "Errungenschaft" gefeiert. Sie lassen den libidinösen und regressiven "Faktor Mensch" "vernünftig", nämlich gemäß der Straßenlage agieren.
Die korrigierenden Eingriffe in die Lenk-, Achs- und Bremssysteme werden allerdings kaum in die Sinne dringen. So sind sie, was sie sein sollen, eine "Entlastung", die dem Fahrer "Unnötiges" abnimmt. Die Schnittstelle Mensch/Auto wird zunehmend verschwinden. Ideal ist und bleibt die Auto-mobilität, die sich selbst bewegt, die keine Herren- und Geisterfahrer mehr braucht - der Motor als "denkendes Erz".

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© Matthias Bickenbach, Michael Stolzke, Bonn 1996