Geschwindigkeitsfabrik und Volksempfänger
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"Unser Zweitwagen ist ein Modem"
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Befehl: Go work

Zur "dromoskopischen" Menschheitsentwicklung Paul Virilio: Der negative Horizont. Stückwerk oder Schrott bleibt eine jede Technikgeschichte, die die Moderne nur als fortlaufende Optimierung der Maschinen versteht: Ein äußerlicher Blick, der die Rückwirkungen der Technik, ihre Schnittstellen zum sozialen Verhalten und dessen Wahrnehmung, außer acht läßt. Unvollständig aber auch, was Kulturgeschichte als Ergebnisse solcher Rückwirkungen zu erklären sucht. Die montierten Episoden dieses Buches ziehen einen anderen Schluß.
Zwei Vektoren oder Bewegungen bilden das Koordinatenkreuz, in dessen Netz sich die Konfigurationen der Geschwindigkeitsfabrik abzeichnen: Beschleunigung und Normalisierung. Ihre Genealogie muß man als "Dromoskopie" und diskursanalytische Machtformation beschreiben.
Zur Normalität als Form der Macht Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M., S.102ff. Erst die Normalisierung, diese subtile und produktive Machtform ermöglicht den Erfolg und die Selbstverständlichkeit, mit der wir das "Gestell der Technik" (Heidegger) zum Rückgrat der modernen Gesellschaften gemacht haben. Verschwiegen dagegen werden die Opfer und Kosten, werden die Einschreibungen im Sozial- und Wahrnehmungsverhalten der Menschen. Sie sind der Technik, was den Kommunikationsmedien das Rauschen ist. Und einer Beschleunigung werden alle unterzogen: Maschinen und Medien, Körper und Sinne. Längst geht es nicht mehr nur um den Transport von Gütern oder Körpern, sondern um die Taktraten der Computerhardware und deren Schnittstellen zu ihren "Usern".
Vgl. Dieter Hoffmann-Axthelm: Über die Schnittstelle. Halb Ding, halb Metapher. In: Ästhetik & Kommunikation. H.75, 1990, S.30-40. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, § 7. 16. Aufl. Tübingen 1986, S. 27 ff, bes. 36.Zu Heidggers Unfähigkeit, Technik zu blicken, siehe Avital Ronell: The Telephon Book. Lincolnd & London 1989, S. 19 ff. Jede erfolgreiche Technik muß spezifische Schnittstellen für die menschlichen Sinne entwickeln. Was dem PC seine Benutzeroberfläche, ist dem Automobil sein Komfort. Indem diese Übersetzung für die menschlichen Sinne gelingt, wird der Umgang normalisiert, gerade weil die Oberflächen der Schnittstellen die Funktionen der Technik selbst verdecken.
Die Geschwindigkeitsfabrik ist das, was der Fall - genauer: der Unfall - ist. Was aber dieser Fall ist, entzieht sich den Sinnen. So ist Technik das Phänomen par excellence, dasjenige, was sich zeigt, indem es sicht verbirgt. Was die Phänomenologie aber nicht denken konnte, ist die Kopplung von Technik und Wahrnehmung.
Der Erfolg des Automobils kann nicht nur seiner wirtschaftlichen Rolle zugerechnet werden. Der Erfolg des Autos ist die Normalisierung der Beschleunigung, die Normalität von Geschwindigkeiten jenseits menschlicher Wahrnehmung und Kontrolle. Dazu leisten die Umcodierungen der Mythen, die Übersetzung von Geschwindigkeitsrausch in Sportlichkeit und Freiheit, ihren Beitrag.
Dazu trägt die heimische Sphäre des Innenraumes der Mobile entscheidend bei. Im Komfort der Sitze, eingerahmt von Sicherheitssystemen, die Kontrollflächen der Armaturen vor Augen, Spiegel und Windschutzscheibe um sich herum - so fühlt sich der Fahrer sicher. In diesem Sicherheitsraum kann Hochgeschwindigkeit normal werden. Eine Grenze wird erst mit dem physiologischen Kollaps des Fahrers erreicht. Im Rennsport etwa ermöglichen Windschürzen Kurvengeschwindigkeiten, die den Fahrern - aufgrund der zu hohen Fliehkräfte - das Bewußtsein kosten können. Heutezutage konstruiert man sie daher knapp unterhalb dieser Schwelle.
Unterhalb dieser "Sportnuance" herrscht die Normalität, die erst durch den Unfall - plötzlich - sichtbar wird. Die Deformation wird zur Information. Die Frequenz der Unfälle aber wird in den Nachrichten weiterhin als Katastrophe, als Umkehrung des Normalen, reportiert. Um Nachricht zu sein muß das Ereignis als das Außerordentliche gelten. Diese Verwechslung der Kategorien ist konstitutiv für die Geschwindigkeitsfabrik. Das tragische Schicksal der individuellen Katastrophe gilt auch dann noch als außerordentlich, wenn es sich immer wieder ereignet.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd.1, S.10 f. Schon bei Robert Musil gerät die Logik des Unfalls in den Blick, weil die Verkehrung des Normalen und des Außerordentlichen das erste Kapitel des "Mann ohne Eigenschaften" organisiert. Nirgends anders wird die konstitutive Verwechslung der Kategorien so präzise beschrieben. Die "Striche der Geschwindigkeit", deren Puls "alle großen Städte" charakterisiert, werden scheinbar durch die Katastrophe eines LKW-Unfalls durchbrochen:

"Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; [...]. Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten über Köpfe und gebeugte Rücken hinweg den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie zurück und zögerten."

Eckart Heftrich: Musil. Frankfurt a. M., München 1986, S.111. Die scheinbare Reihenfolge des Ereignisses und des Hinzutretens trügt. Das "seinesgleichen geschieht" ist nicht außerordentlich. Sondern das Außerordentliche dieses Kapitels, worin laut Titel "bemerkenswerterweise nichts geschieht", besteht in der Unbeobachtbarkeit des Ereignisses: "Das eigentliche Geschehen ist von ihnen nicht bemerkt, d.h. im Bewußtsein registiriert worden, obwohl sie es gesehen haben."
Was folgt, ist eine psychische Aufräumarbeit, die das vermeintliche Chaos wieder in Ordnungen überführt. Genau dazu gehört die Wertung als Außerordentliches:

"Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: 'Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.' Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging."

Auf die individuelle Verdrängung, nach der dann das Opfer "durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden" gekommen war, "wie allgemein zugegeben wurde", folgt die soziale Verdrängung des Unfalls durch praktische Aufräumarbeiten:

Gegendarstellung: Die Musil-Forschung weist darauf hin, daß die Unfallstatistik nicht dem zeitgenössischen Fall entspricht.

"Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe. 'Nach den amerikanischen Statistiken', so bemerkte der Herr, 'werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt.' 'Meinen Sie, daß er tot ist?' fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben."

Technostress.

Siehe: Schlachtfeld Strasse. In: Der Spiegel 8/1995, S. 120-134.

Weil die Geschwindigkeitsfabrik die strukturelle Kopplung von Transport und Information ist, weil also die Insassen sich nicht nur transportieren lassen, sondern a priori an ein System der Wahrnehmung angeschlossen sind, bleibt nur die Anpassung. Verbissen bemühen sich die Insassen, die Informationen der Geschwindigkeitsfabrik zu verarbeiten, ohne zu verunglücken. Wenn die normale Hochgeschwindigkeit unterbrochen wird reagieren wir aggressiv. Man hat das schöne Wort vom "Technostress" dafür gefunden, um das jedem PC-User bekannte Phänomen der Gewöhnung an schnellere Geschwindigkeiten zu erklären.
Die Wartezeit am alten PC wird unerträglich angesichts des neuen Pentiums oder Power PCs. Gleiches Phänomen im Straßenverkehr. Stockungen und Stauungen werden als persönliche Behinderung, als Niederlage, verarbeitet. Die Folgen sind Kriegszustände im Stadtverkehr und auf der Autobahn. Diese Effekte verdankt das Vehikel seiner Besonderheit als Objekt.
Foucault fährt in seinem "schwedischen Exil" (1956-59) einen Jaguar. "Jedermann erzählt, daß er wie ein Verrückter fuhr." Vgl. Didier Eribon. Michel Foucault. Eine Biographie. F. a. M. 1993, S.129. Das Automobil vereint zwei Machtformen auf ideale Weise. Zum einen verhelfen Geschwindigkeit und Kraft des Wagens zur "Herrschaft über Raum und Zeit", wie seit 1906 propagiert wird. Diese Funktion des Vehikels als Vektor- oder Geschwindigkeitsmaschine bildet jedoch nur eine Bedingung. Paul Virilio bleibt in seinen Erklärungen zur Dromoskopie des Automobils monokausal. Der Wagen ist nicht nur ein Projektil auf dem idealen Vektor. Denn das Automobil "birgt" zugleich den Fahrer. "Mein Ford ist meine Heimat", schreibt Brecht aus dem Exil in Schweden. Der Innenraum des Wagens ist Privat- oder Intimsphäre. Als Vehikel ist das Automobil öffentlich, aber als Raum privat.
Vgl. Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis, S.34 ff. Seine Funktionen folgen nicht allein der von Virilio beschriebenen militärischen Eroberung von Raum und Zeit, sondern ergeben sich aus dem, was Foucault als Theorie "heterotoper Räume" formuliert. Es sind Räume, die mehrere Funktionen ermöglichen. So ist das Automobil zugleich Demonstration der Macht von Geschwindigkeit und eines dennoch sicheren Gefühls der Fahrer. Im abgeschlossenen Innenraum befindet sich der Fahrer "zuhause", während er selbst eigentlich nirgendwo ist, sondern unterwegs. "Zuhause" ist der Lärm der Umwelt, die eigenen Fahrgeräusche, gedämpft, und das Radio sorgt für Atmosphäre.
Roland Barthes: Der neue Citroen. In: ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964, S. 76. Auf diese paradoxale Funktion hat schon Roland Barthes in seinem Artikel über den neuen Citroen DS hingewiesen. Was den Lesern ins Auge stach war der Vergleich des Wagens mit der gotischen Kathedrale. Dieser bezieht sich konkret auf die Ende der 50er Jahre in Mode kommenden vergrößerten Windschutzscheiben. Von dieser Beobachtung aus konstatiert Barthes das Auto als ein "magisches Objekt" des Alltagsgebrauches. Der "neue Citroen" hat einen schönen Namen, nämlich Déesse, die Göttin. Vergöttlichung ist Tradition, schließlich wurde auch der erste in den USA käufliche Wagen auf den Namen "My Lord" getauft. Der entscheidende Satz, ein Stück, das immer überlesen wurde, lautet: "die Déesse ist zunächst ein neuer Nautilus."
Ebd. S. 41.
Roland Barthes wird am 26.3. 1980 in der Rue Ecoles, auf dem Weg zum Collège de France, von einem LKW angefahren und stirbt einen Monat später. Foucault hält die Leichenrede.
Siehe Micha Hilgers: Total abgefahren - Psychoanalyse des Autofahrens. Freiburg u. a. 1995.
Die Nautilus ist das Vehikel aus dem Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" von Jules Vernes. Was aber heißt das, der neue Citroen sei ein neuer Nautilus, ein U-Boot? Barthes hat eine andere Passage seiner "Mythen des Alltags" Jules Verne unter dem Titel "Nautilus und Trunkenes Schiff" gewidmet. Dort wird der "Wesenszug" der Nautilus, und damit des neuen Wagens erläutert:

"Die Nautilus ist die ideale Höhle, und das Genießen der Abgeschlossenheit erreicht dann seinen Paroxysmus, wenn es möglich ist, aus dem Schoß dieses nahtlosen Innern durch eine große Scheibe das unbestimmte Außen des Wassers zu sehen und damit durch ein und dieselbe Bewegung das Innere durch sein Gegenteil zu bestimmen."

Der neue Citroen ist nicht das "genaue Äquivalent" zu den gotischen Kathedralen mit ihrer Auflösung der tragenden Wand, sondern das funktionale Äquivalent zu den Phantasien eines Vehikels, das Einschließung und Geborgenheit sowie Bewegung und strategische Macht in sich vereinigt. Automobile sind U-Boote auch in der Hinsicht der Abschottung von der Kommunikation, was von Psychologen als hauptverantwortlich für die Aggressivität der Autofahrer bzw. für ihre während der Fahrt produzierte Regression angesehen wird.
Das Automobil etabliert die Normalität der Gewalt von Geschwindigkeit, aber Unfälle dürfen nicht Normalität sein. Wie perfekt die Verwechslung von Normalität und Katastrophe funktioniert, zeigt die Tatsache, daß die Automobilwerbung heutzutage mit Bildern von Crash Tests für Sicherheit werben kann. Der Schrott steht nicht für die Zerstörungskraft des Unfalls, sondern für die Sicherheit des Mobils.
Unter solchen Vorzeichen können Autounfälle auch Einzug in Kinderzimmer halten. In den USA erfreut sich ein Spielzeug besonderer Aufmerksamkeit, das auch in den Reklameblöcken des Kinderfernsehens unserer Kanäle angeboten wird. Es sind Dummy-Figuren mit ihrem Crash Wagen. Man läßt sie gegen die Wand fahren und steckt dann die versprengten Teile wieder zusammen. Wird der Unfall hier wiederholbares Kinderspiel, findet seine Information oder Deformation nicht statt.
Buster Keaton in "The Three Ages". Wie in der Frühzeit des Automobilismus als Unfälle in Karikaturen oder Filmen - etwa dem Buster Keatons, mit dem heute eine Versicherung für die "Souveränität der Sicherheit" wirbt - wird der Unfall nur als säuberliche Demontage der Teile, nicht aber als deren Deformation präsentiert. Heute aber ist man auf die genaue Information der Deformation angewiesen. Auf eine Genauigkeit der Einschreibung von Spuren, die sogar Leichen statt Dummies verwenden läßt, was die Öffentlichkeit nicht als Normalität hinnimmt, sondern als empörende Nachricht.
Vgl. Jean Baudrillard: Die Erpressung zur Sicherheit. In: ders.: Der Tod tanzt aus der Reihe. Berlin 1979, S.129ff. Es ist daran zu erinnern, daß die Normalität der Sicherheitstechnik erst erpreßt werden mußte. Der Eingriff in die Freiheit der Individuen durch die Anschnallpflicht (1.1.1976) dürfte noch in Erinnerung sein. Erst flankierende Maßnahmen, wie die Werbekampagne "Schnall dich an" sowie das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes vom 20.3.1979 setzen durch, daß Anschnallen zur Normalität wurde. Nicht angeschnallte Unfallopfer haben einfach keinen Anspruch auf die volle Erstattung ihrer Versicherung. So wird diese Sicherheitstechnik zur Pflicht. Die Sicherheit selbst ist inzwischen eine Industrie geworden. Und sie ist hochtechnisiert. Pyrotechnik in Gurtrückholsystemen (Mercedes), Millisekundenkalkulationen im Airbag, rechnergesteuerte Achsen- und Bremssysteme, für den "Fall, daß" (VW).
Zu den Implikationen dieser Technikgeschichte Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986 sowie Avital Ronell: The Telephone Book. Lincoln & London 1989. Auf einen letzten Kreislauf, auf die vollendete Kopplung von Transport und Information, bleibt hinzuweisen. Die Geschwindigkeitsfabrik entstand aus der wechselseitigen Evolution der Transport- und der Kommunikationsmedien. Nachdem die Eisenbahn die Erfahrung der Umkehrung von Raum und Zeit eingeführt hat, entwickeln sich im nachrichtentechnischen Bereich ebenfalls Zeitmaschinen, die den Transport der Kommunikation unabhängig von Räumen übernehmen.
Man experimentiert mit Telegraphen, ersten Fax-Geräten, erfindet das Telephon und speichert Geisterstimmen mit dem Grammophon. Die analoge Codierung über- und unterschreitet die Wahrnehmungsschwellen des Menschen auf die gleiche Weise, wie es die Erfahrung der gefahrenen Geschwindigkeit tut. Und auch sie basiert zunächst auf der Einschreibung materieller Spuren als Information, die durch das technische Gerät, etwa das Grammophon, zu menschlich wahrnehmbaren und verstehbaren Sinneinheiten rückübersetzt werden. Die Geschwindigkeit bildet den gemeinsamen Nenner aller Information - eine Konstante der Beschleunigung, der unsere Kultur folgt.
Zum Automobil als Vorläufer der Fusion aller Kommunikationsmitte Virilio: Der negative Horizont, S.214f. Das Automobil ist eine Wahrnehmungsmaschine. Dem im Autositz fixierten Passagier bietet sich ein doppelter Blick, der den Wahrnehmungseffekt seiner vektoriellen Geschwindigkeit, das Durchbohren des Raumes, steigert. Virilios Sprache stilisiert dies zur "Kunst des Armaturenbrettes". Der Fahrer ist fixiert zwischen den Armaturen und den "Bildschirmen" der Windschutzscheibe, auf denen eine im strengen Sinne irreal gewordene Realität filmisch abläuft. Die Nähe des Videospiels zur Autofahrt ist offensichtlich. Während die Landschaft auf dem Vektor der Geschwindigkeit von selbst verschwindet, konzentriert sich die Funktion des Fahrers einzig darauf, den Vektor aufrechtzuerhalten und Hindernissen auszuweichen.

Beispiel eines Fahrsimulators (um 1970).

Vgl. W&V Background 3/94, S.64.
Automobile geben in vielerlei Hinsicht ideale Kandidaten für künstliche Realitäten ab. Auch jene Erfahrung des Unfalls, die als Realität nicht erfahren, sondern nur erlitten werden kann, kommt in den multimedialen Geschwindigkeitsmaschinen als vollendete Zukunft zurück.
Die englische Firma Division Ltd. erstellt in Zusammenarbeit mit der Agentur Clarke Hooper Communications für den Bodyguard Volvo einen Crash Simulator zur Demonstration auf Automobilmessen. Die Virtualität des immer möglichen Unfalls wird in der Simulation des Cyberspace zur virtuellen Realität. Der Fahrer sitzt in einem realen Auto und erlebt die Autofahrt in einer Datenbrille des Cyberspace Environment.

"Plötzlich wird er von einem LKW gerammt. Natürlich überlebt das virtuelle Unfallopfer. Die Szene wird in Zeitlupe wiederholt, während aus dem 'Off' die Sicherheit des Autos erläutert wird."

Die Parallelität und Wechselwirkung der Transportoptimierung sowohl von Gütern wie von Kommunikation werden durch die jüngste Technologieoffensive der us-amerikanischen Politik populär: das Projekt einer Datenautobahn, das Bill Clinton und sein Beauftragter Al Gore zur nationalen Erneuerung der Großmachtpolitik ausgerufen haben.
45 Millionen Bit pro Sekunde.


Zur Teleheimarbeit vgl.: Beate Schulz, Ulrich Staiger. Flexible Zeit, Flexibler Ort. Telearbeit im Multimedia-Zeitalter. Weinheim 1994.

In ihren Breitbandkabelnetzen fallen nicht nur Telephon, Television und Computer zusammen, sondern ihre Geschwindigkeit soll den realen Transport ersetzen. Sei es, daß man on line Videos auf dem Bildschirm auswählt und sie dann auf demselben Bildschirm sehen kann, sei es, daß mehr und mehr Firmen als "virtual corporation" keinen Firmensitz mehr haben, sondern ihre Mitarbeiter nur durch die Datennetze verbinden und versorgen. In der Datenautobahn renoviert sich die Kopplung von Staat, Medien und Militär zum "User".
Der Geschwindigkeitsrausch, den ehemals die schnelle Fahrt über noch freie Bahnen ermöglichte, wird ersetzt durch die Videoästhetik der schnellen Schnitte und deren manueller Umsetzung im ständigen Zapping oder Channel hopping. Das Programm der Datenautobahn sieht das Angebot von nicht weniger als 500 Fernsehkanälen vor. So wird auch die virtuelle Realität unerzählbar, verabschiedet sich das schriftliche Paradigma der Narration, dessen Kontinuität über die Gemütlichkeit eines Leseflusses gesteuert wurde.
Während im "Dritten Reich" Hitlers die Individuen noch über die "Volksempfänger" informiert und über die neuen Autobahnen an die Fronten transportiert wurden, fallen diese Funktionen in der "Datenautobahn" zusammen. Grund genug für eines der größten Verkaufshäuser für Computern in der BRD ein "Volksmodem zum Volkspreis" zu annoncieren.
Aber nicht nur diese Fronten lösen sich auf. Wie für moderne Kriege die Unterscheidung von Heimat und Front nicht mehr zutrifft, sind auch die Fronten der Technologiepolitik nicht mehr eindeutig zu beobachten. Nicht nur, das die Konkurrenten Apple und IBM sowie Motorola und Intel Kooperation vereinbarten. Auch die Technologieoffensive der "Datenautobahn" erfordert gleiche finanzielle, organisatorische und juristische Aktivitäten, wie sie für die realen Autobahnen einst Bedingung waren. Eine Gesetzesinitiative zur Änderung des Communication Act von 1934 in den USA wird den juristischen Freiraum schaffen. Die Bildung eines Konsortiums aus 17 Unternehmen, Großforschungseinrichtungen und Hochschulen wird die finanziellen und technischen Mittel für den Prototyp des Information Highway bereitstellen.
Hier finden sich die illustren Namen der Verwalter verschiedenster Informationstechnologien, Telefon- und TV-Gesellschaften ebenso wie Computerhersteller, Sofwarehäuser und Universitäten. Den Parallelen zu den Wirtschaftsstrukturen der dreißiger Jahre soll hier nicht nachgegangen werden. Auffällig ist nur, daß keine Automobilindustrien beteiligt sind. Die Transporttechnologien realer Güter werden altmodisch geworden sein, wenn die Geschwindigkeitsfabrik ihre Umstellung vollzogen haben wird. Aber noch ist das Modem nur ein metaphorischer Zweitwagen.
Die jüngste Geschichte unserer Kultur besteht nicht einfach nur in der Beschleunigung und Häufung von Informationen, sondern vielmehr in deren Netzwerk wechselseitiger Verweise, der Komplexität eines Hypertextes. Das "postmoderne Wissen" kann die Totalität einer Geschichte nicht mehr konstruieren. Die Lage dieser Vernetzung fordert vielmehr die Notwendigkeit einer Beobachtung, die die abgeschnittenen Stücke als fragmentarische Kulturgeschichten montiert. Menschlich wird nur noch das Erleiden oder die Leidenschaft dieses Beobachtens gewesen sein. No Apocalypse, not now...

Auf Wiedersehen!

© Matthias Bickenbach, Michael Stolzke, Bonn 1996