Unfall: wie es zur Kategorie im modernen Sinn kam.

Unfall: wie es zur Kategorie im modernen Sinne kam.

"hört man in der rede der arbeitenden bevölkerung unfall, so ist die staatliche unfallversicherung gemeint." (Grimm Wb, Bd. 13, Sp. 521)

"Auf der Straße werden jahraus, jahrein mehr Menschenopfer dargebracht, als alle terroristischen Akte, alle Machenschaften der Atomlobby, alle Überfälle, Polizeiaktionen und Drogensyndikate zusammen je gefordert haben. An den sogenannten Feiertagen werden regelmäßig die Höhepunkte dieses mörderischen Mehrheits-Rituals zelebriert. Dieses fortwährende Massaker gitl als das Gewöhnlichste von der Welt; es ist das Gewöhnlichste von der Welt." (H.M. Enzensberger, zit. nach Link KRR 27, 1992, 54)

Unfälle und Katastropen hat es immer gegeben. Aber der Unfall in seiner heutigen spezifischen Bedeutung entsteht erst Ende des 19. Jahrhunderts und zwar im Zusammenhang des Arbeitsunfalles, der begriffliche Klärung und praktische Maßnahmen forderte. Bismarck "kam auf die Idee" am 6. Juli 1884 ein Unfallversicherungsrecht einzuführen, aufgrund dessen die Sozialgesetzgebung und deren Unfallpflichtversicherung enstand.

An dieser Einführung der spezifischen Kategorie Unfall, kann man gut die notwendigen Umcodierungen beobachten, die ihn als Kategorie aus seinen bisherigen Kontexten herauslösen mußten.1

Nach Francois Ewald (L`état providence. Paris 1986 (dt. Der Vorsorgestaat. F.a. M. für 1992 angekündigt) ergibt sich die spezifische Codierung der Kategorie Unfall aufgrund lexikallischer und juristischer Untersuchungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Erst zu dieser Zeit verliert das Wort seine abstrakte Bedeutung von etwas, das durch Zufall geschieht, und kann sich von daher mit der Vorstellung eines zu reparierierenden Schadens, zu etwas Handhabbaren gestalten. D.h. Unfall ist nicht länger einfach ein "Ereignistyp, sondern bezeichnet spezifisch die Art und Weise eines Bezugs zum anderen Fall." (vgl. Link 1992, 60).

In diesem Kontext wird Unfall zu einer Kategorie, die ein eigenes Recht, eine eigene Rechtsprechung erhält. Und dies nicht zuletzt, weil die Komplexität der zusammenwirkenden Ursachen "das Prinzip der persönlichen Schuld oder Unschuld schließlich sozusagen überrollt." (ebd. 61). Die Komplexität mußte mittels festgeschriebener Gesetze und vor allem der "Versicherungmathematik", deren Statistik die wissenschaftliche Grundlage für die Versicherungen wurde, berechenbar werden.

Das bereitete zunächst Probleme, da (in Frankreich z.B.) diese Zuschreibung von "Schuld" oder "Verantwortung" derjenigen des Code Napoleon (1804) vollständig widersprach. So mußte, trotz der Wahrnehmung typischer und sich immer wiederholender Arbeitsunfälle, trotzt also statistischer Auswertung und Klassifizierung, zunächst noch die Praxis beibehalten werden, daß jeder einzelne Unfall vor Gericht zwischen Arbeiter und Unternehmen als Einzelfall verhandelt wurde, in dem je individuell Schuld oder Verantwortung evaluiert wurde. So waren Unfälle Individuen, unvergleichlich. Das, wie gesagt, obwohl zu dieser Zeit Statistiken "eine relativ feste durchschnittliche Erwartbarkeit von Unfällen, d.h. ihre Normalität erwiesen hatten" (Link, 60)

Bei Ewald kann man eine ausführliche Rekonstruktion der entsprechenden juristischen Debatten nachlesen.

Das neue Rechtsprinzip führte schließlich (in Frankreich 1898) ein einheitlich geregelte (und quantifizierbare), gerade nicht mehr individuelle Beurteilungs- oder Verurteilungskriterien für die Unfallversicherung ein. Genau an diese Stelle treten die Datenerhebungen, Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechungen. Nach Ewald sind sie für die private und staatliche Sozialverischerung konstitutiv. Erst aufgrund der Statistiken und ihrer Wahrscheinlichkeitsrechung wurde der Unfall ent-individualisiert und zugleich rechtssprechungsfähig.

Um so verwunderlicher, daß im Falle des Automobils (als Programm) die Wahrscheinlichkeitsrechung durch den Individualismus substituiert wurde. Zwar gilt auch für den Autounfall die Rechtssprechung und ihre Kriterien, in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch wird beibehalten, was wie das jeweilige individuelle Versagen des Fahrers aussieht: Der Fahrer verlor die Kontrolle...

1: Rein sprachlich zeigt das Wort drei Bedeutungsebenen.

  1. Alte, allg. u. sinnliche Bedeutung: dort enspricht Un- dem Fall. Schöne Hauptverwendung für Schwangerschaft etc. (miszfall = Fehlgeburt): Unfall der Frau... (defloratio, abortus)
  2. In übertragener und "entsinnlichter" und allgemeiner Bedeutung unterscheidet man:

3. mit der größeren Folgerichtigkeit (aber notwendig verengt) dann im "technischen sinne des heutigen verischerungswesens" (526) Dort wird Plötzlichkeit und Schaden, aber auch eigenes Verschulden festgeschrieben. Der Unfall wird so zu einem Fall, der nicht nur Zufall ist. (Möglich ist diese Bedeutung seit 16. Jhd. Komposita sind zahllos, aber fast alle mit Unfall- als Präfix stammen aus dem Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung (Bismark)

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