Ein lehrreicher Unfall des Dichters Brecht

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Ein lehrreicher Unfall des Dichters Brecht. In: Uhu. Das Monatsmagazin. Berlin 1929, S.62-65. Noch bevor der Unfall nacherzählt ist, wird der Schuldige identifiziert: "Der Feind des Automobilisten, des Fußgängers, überhaupt des Verkehrs, ist der wilde Fahrer." Mit dieser typologischen Täterbeschreibung hebt die Rekonstruktion des Autounfalls Bertolt Brechts im Berliner Monatsmagazin "Uhu" an. Der Artikel aus dem Jahre 1929 reportiert nicht nur das vorgegebene Unfallgeschehen, gleichzeitig spiegelt der Text den zweiten Blick der Öffentlichkeit auf das Phänomen des Autounfalls. Aber der Unfall wird schon geschehen sein. Erst die Faktizität seines Ereignisses gibt den Anlaß, ihn zu bearbeiten und zu archivieren.
Was Pidoll nur wortgenau registrieren kann, indem er die Kurzmeldungen und Opferzahlen aus den Zeitungen anführt, wird nun bebildert. Ganz im Geiste des Unfall-Versicherungsangestellten Franz Kafka sollen Photographien die entscheidenden Momente des Unfalls dokumentieren, um daraus etwas zu lernen. Es wird versucht, dem Unfall auf die Spur zu kommen. Aber Montage abgeschnittener Stücke bleiben beide Versuche, ob in Wort oder Bild.
Brecht beteiligt sich mit seiner Erinnerung an der Nacherzählung. Die Steyr AG assistiert mit freundlicher Unterstützung und stellt die Wagen zur Verfügung. Im Grunde genommen ist der Bericht also nicht mehr als die Rekonstruktion eines erinnerten Geschehens, eine Geschichte. Daß Brecht jedoch mit seinem Gedächtnis partizipieren kann, verrät im vorhinein die lediglich unbedeutenden Verletzungen, die er aus dem Unfall davonträgt. Darin unterscheidet sich Brechts Unfall von den vielen, die er repräsentieren soll. Und doch ist das Untypische seines Unfalls die Bedingung dafür, daß in Kooperation mit dem Werbeleiter der Automobilfirma davon als typischem Unfall berichtet werden kann:

"Der Dichter Brecht hatte kürzlich einen für viele Auto-Unfälle typischen Unfall. Er steuerte seinen Steyr auf der Straße nach Fulda im 70-Kilometer Tempo. Die Straße war gar nicht so schmal, aber auf seiner Seite schoß hinter einem entgegenkommenden Lastwagen ein Wagen, der viel stärker war als der seine, überholend vor, ohne sich vorher überzeugt zu haben, daß ein anderer Wagen (Brechts Wagen) ihm entgegenkam. Für Brecht war die Lage außerordentlich gefährlich; nach links konnte er wegen des Lastwagens, der sich auch in ziemlicher Fahrt befand, nicht ausweichen, rechts standen Bäume, und hinter diesen Bäumen fiel die Straße ungefähr 5 Meter in einer Böschung ab. Brecht hatte zwei Möglichkeiten; einmal, die Böschung hinabzufahren und sich im offenen Auto mehrmals zu überschlagen oder im 70-Kilometer-Tempo gegen einen Baum zu fahren und zu zersplittern. Der Abstand zwischen dem entgegenkommenden und seinem eigenen Wagen, bei einer gegenseitigen Geschwindigkeit von 70 km, war sehr gering. Brechts Wagen war also gezwungen, auszuweichen, und Brecht vermochte, die Bremsen mehrmals stark anziehend und sofort wieder öffnend, auf den ihm zunächst erreichbaren Baum aufzufahren. Es gelang ihm, genau mit der Mitte des Kühlers den Baum zu treffen und so den Wagen aufzufangen. Der Kühler zerbrach, und die aufstoßende Vorderseite des Chassis bog sich ringförmig um den Baum, aber sie hielt den Wagen zugleich fest. Das Ergebnis waren nur unbedeutende Verletzungen."

"Bereits damals kam der Denkanstoß dazu vielfach von mehr oder weniger schwer verunfallten Fahrzeugen."

"100 Jahre Daimler Benz"; "Die Technik". M. Barthel, G. Lingau. Mainz 1986, S.314ff.

So lautet die Beschreibung des ersten Crash Tests der Automobilgeschichte. Und der Dichter Brecht ist sein Dummy, allerdings ein kluges. Brechts Bremsverhalten ist beispielhaft. Zudem entscheidet er sich für einen zentrierten Frontaufprall und vertraut dem hohen Intrusionswiderstand seines Kühlers. Versetzter Aufprall, Frontalzusammenzustoß oder mehrfacher Überschlag hätten andere Ergebnisse gezeitigt. Geradlinig reiht sich der Unfall in die Typologie des Pfahl-Unfalls ein.
Der Text suggeriert ein Bewußtsein des Fahrers Brecht, was den glimpflichen Ausgang des Unfalls vorwegnimmt. Nur wer Erinnerung oder Zeugenschaft zu speichern vermag, kann von Abenteuern berichten. Doch der Blechschaden verdankt sich keineswegs einem automobilen Selbstbewußtsein. Vielmehr präsentiert das deformierte Chassis die Konsequenz einer Versuchsanordnung, die erst Ende der 50er Jahre von Mercedes Benz als Crash Test wissenschaftlich instrumentalisiert werden soll. Der Text des Monatsmagazins simuliert eine menschliche Beteiligung, die als Konfiguration aus Geschwindigkeit, Richtungsvektoren und Crashworthiness beschreibbar ist.
Zum Originaltext Acht Photographien geben die zeitliche Reihenfolge des nachgestellten Unfalls wieder. Wie die Erzählung wiederholen die Aufnahmen das Geschehene und geben sich als realitätsnahe Dokumentation. Die Beobachtung des Vorher und Nachher eines Unfalls ist nur als Konstruktion und Versuchsanordnung möglich. Die Photographien zeigen, wie sich der Unfall anbahnt und halten den Moment der Katastrophe, des Umschwungs vom geregelten Verkehr in den Unfall, fest. Zwei Photos werden untereinander montiert, wobei das untere (Brechts Wagen) auf den Kopf gestellt wird. So ergibt sich die duellhafte Gegenüberstellung der Unfallfahrzeuge, die das rechts / links Schema und die ordnende Perspektive für den Leser aufrechterhält.
Die Photographien sollen die Authentizität der Erzählung unterstreichen. Doch wie Pidolls Zitaten-Montage fällt auch der Uhu-Artikel unter die alte Bedeutung des Rekords. Nicht die absolute Spitzengeschwindigkeit, das außerordentliche Ereignis wird hier verzeichnet, sondern schlichtweg eine alltägliche Begebenheit. Die Behandlung des Unfalls folgt bis heute der alten, schlichten Bedeutung von Aufzeichnung, sei sie statistisch, bildlich oder erzählend.
Die Genauigkeit der Beschreibung, die Benennung der den Unfall kennzeichnenden Faktoren, deutet die Simulation moderner Crash Tests nur an. Das geschickt im finalen Unfallbild eingerückte Steyr-Logo aber benennt den eigentlichen Autor. Nur der Unfall, der geschah, ist nicht zu sehen.
Ein Bild zeigt "Brechts Wagen nach dem Unglück". Doch die ringförmige Deformation der Autofront ist nicht zu erkennen. Lediglich die beiden Scheinwerfer sind verrückt, die Räder ein wenig schräg gestellt. Das Photo leugnet die Geschwindigkeit der 70 km/h und die Deformation, die ihr Ergebnis wäre. Alternativ wird deshalb ein Bild abgedruckt, das zeigt, "wie die beiden Wagen ausgesehen hätten, wenn sie aufeinander gefahren wären". Schon wird der Schrott konjunktivisch, geraten wir wieder an die Bilder, die alle kennen, doch keiner gesehen hat. Der gezeigte mögliche Unfall wird zu einem Fall, der ohne Schock und Trauma das singuläre Ereignis repräsentieren soll. Nur die Bildunterschrift rückt die Stochastik zurecht: "Aufnahme von einem der vielen täglichen Auto-Zusammenstöße".
Für die Mitarbeit am "Uhu"-Beitrag erhält Brecht von der Steyr AG einen neuen Wagen. Er wird ihn fahren, bis daß die Gestapo das Auto requiriert und Brecht im Exil auf einen alten Ford umsteigen muß.
Es ist bereits der zweite Wagen, den er sich werblich in der Automobilindustrie verdient. 1928 schreibt Brecht das Gedicht "Singende Steyrwägen" und erhält als Honorar ein Fahrzeug der österreichischen Automobilbauer. In der oft als "Werbe-Gedicht" apostrophierten Arbeit verweist Brecht auf die Verflechtung der Automobil- mit der Rüstungsindustrie. Das Auto kommt als großer Bruder des "Manlicherstutzens" daher. Das in Brecht-Ausgaben nicht kommentierte Gewehr bescherte den k.u.k. Armeen im I. Weltkrieg beschleunigte Feuerkraft. Die erste Strophe des Gedichts wird gerne ausgelassen und oft überlesen. Brechts Klartext wird nur lyrisch verstanden.

Singende Steyrwägen

Wir stammen
Aus einer Waffenfabrik
Unser kleiner Bruder ist
Der Manlicherstutzen.
Unsere Mutter aber
Eine steyrische Erzgrube

Wir haben:
Sechs Zylinder und dreißig Pferdekräfte.
...
Wir liegen in der Kurve wie Klebestreifen.
Unser Motor ist:
Ein denkendes Erz.

... Wir fahren dich so ohne Erschütterung
Daß du glaubst, du liegst
...
Daß du glaubst, du fährst
Deines Wagens Schatten.

Die Lehre gibt Brecht in "Herr K. fährt Auto": "Man muß aber zweie fahren können, nämlich auch noch das Auto vor dem eigenen. Nur wenn man beobachtet, welches die Fahrverhältnisse für das Auto sind, das vor einem fährt, und seine Hindernisse beurteilt, weiß man, wie man in bezug auf dieses Auto fahren muß."

Brechts Credo der Steyrwägen denkt das Ideal des Automobilismus zu Ende. Es sind die Fahrzeuge, die den Menschen fahren und ihn glauben lassen, daß er sie nur lenken muß. Das Auto, das Brecht für das Gedicht erhält, ist jener Wagen gewesen, den er bei Fulda zu Schrott gefahren haben wird. Der Kreislauf schließt sich, indem die Lehre aus des Dichters Unfall zum Preis für eine neues Fahrzeug wird. Wie die Ergebnisse der Crash Tests in die Konstruktionen der folgenden Autogenerationen einfließen, verdankt Brecht seinem Rekord ein neues denkendes Erz aus den Fabriken der Steyr AG. So ist auch an dieser Geschichte etwas Wahres dran.

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© Matthias Bickenbach, Michael Stolzke, Bonn 1996